Perfektionismus als Digitalisierungsbremse beim OZG
⟩⟩⟩ von Thomas Petersdorff, Behörden Spiegel
Unter dem Eindruck Coronas hat die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung im vergangenen Jahr enorme Sprünge getan. Doch nicht nur das: Infolge der Pandemie hat sich auch ein Kulturwandel vollzogen, der bis auf die Strukturen föderaler Zusammenarbeit durchgreift. Nicht zuletzt im Rahmen der Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes (OZG) samt “Einer-für-alle”- Prinzip (EfA) machen sich die Veränderungen bemerkbar. Darin sind sich die Referentinnen und Referenten beim Online-Kongress Digitaler Staat einig. Langfristig wird es jedoch darum gehen, die Vorteile des föderalen Systems in Deutschland effizienter zu nutzen.
Homeoffice, Distanzunterricht, zügig ausgerollte Wirtschaftshilfen – trotz unübersehbarer Defizite beim Projekt digitale Verwaltung habe die Corona-Pandemie der Modernisierung hierzulande Beine gemacht, erklärt Jan Pörksen, Vorsitzender des IT-Planungsrates und Chef der Senatskanzlei der Freien und Hansestadt Hamburg. Was zuvor noch in weiter Ferne schien, wurde binnen eines Jahres erreicht. Konkret sind es für Pörksen drei Faktoren, welche die Rahmenbedingungen seit Einsetzen der Pandemie grundlegend geändert haben. Da wäre zum einen ein neuer Durchsetzungswille, der digitale Vorhaben auf der politischen Agenda weit nach oben gesetzt und Ausdruck u. a. im Corona-Konjunkturpaket der Bundesregierung gefunden habe. Dieses biete den verantwortlichen Akteuren das dringend notwendige finanzielle Back-up, um Projekte und Vorhaben schnell in die Umsetzung zu bringen. Last but not least: das Registermodernisierungsgesetz (RegMog), das auch bei der Umsetzung des OZG neue Möglichkeitsräume schaffe und eine Realisierung des Once-Only-Prinzips im Rahmen der digitalen Verwaltung in greifbare Nähe rücke.
Föderalismus digital neu justiert
Doch geht für Pörksen die Entwicklung nicht nur in eine Richtung. Auch die Digitalisierung ihrerseits wirke auf den politischen Rahmen ein und finde dabei neue Antworten auf die alte Frage föderaler Zusammenarbeit. “Aus meiner Sicht ist die Digitalisierung auch die Chance, den Föderalismus neu zu denken”, führt Pörksen aus. Als prominentes Beispiel nennt der Vorsitzende des IT-Planungsrates das Prinzip “Einer für alle”, das nicht mit einer bloßen Umsetzungsmodalität verwechselt werden dürfe. Im Gegenteil: Mit EfA werde die föderale Idee neu erfunden. Während zentrale Ansätze Effizienz bei Entwicklung und Betrieb sicherstellten, helfe die erprobte Umsetzungserfahrung bei Ländern und Kommunen, einheitliche und bürgerfreundliche Services anzubieten. Das arbeitsteilige Vorgehen sorge nicht nur für mehr Qualität bei den Dienstleistungen, sondern schaffe darüber hinaus bei Ländern und Kommunen Kapazitäten für eigene Projekte und neue Innovationsfelder. Dadurch, dass mit EfA nicht Länderunterschiede, sondern die Machbarkeit bzw. Möglichkeit zur Nachnutzung bei digitalen Dienstleistungen in den Vordergrund gerückt werde, kehre das Prinzip geradezu die bisherige Beweislast im Föderalismus um.
Mut zum Umdenken
Bleibt schließlich noch der Faktor Nutzerzentrierung. Als Vorbild verweist Pörksen auf das Beispiel Dänemark, wo es sehr viel besser gelinge, Anwendungen auf die Straße zu bringen. Das sei umso wichtiger, als sich der Erfolg des Projektes digitale Verwaltung schließlich in der Praxis entscheide. Ein wesentlicher Schritt auf dem Weg hin zum Erfolg sei die Verabschiedung des RegMog gewesen, das Bürgerinnen und Bürgern, aber auch den Mitarbeitenden in der Verwaltung selbst gestatte, schnell und unkompliziert agieren zu können. Künftig gelte es aber noch mehr, mit alten Tugenden zu brechen. Allen voran nennt Pörksen den in Deutschland verbreiteten Hang zum Perfektionismus, der inzwischen jedoch auf dem Rückzug sei. Im Zuge der Pandemie habe die Verwaltung gelernt, “einfach mal loszulegen” und sich vom 100-Prozent-Denken zu verabschieden. Der zu beobachtende Kulturwandel habe sehr viel Mut abverlangt, jetzt aber stimme er ihn zuversichtlich, den Schwung der aktuellen Krisensituationen zugunsten des digitalen Staats auch in Zukunft nutzen zu können.
Scheitern gehört zum Prozess
Zustimmung kommt von Dr. Markus Richter, Staatssekretär im Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) sowie Beauftragter der Bundesregierung für Informationstechnik (CIO). Mit Blick auf das herannahende Fristende der OZG-Umsetzung habe sich auch in diesem Bereich viel getan, konstatiert Richter. Inzwischen seien über 300 Verwaltungsdienstleistungen in hohem Reifegrad digitalisiert, darunter auch sehr komplexe Verfahren wie beispielsweise der Bauantrag. Auch das Bundesportal, auf dem alle Services von Bund, den Ländern und Kommunen zentral gebündelt werden sollen, sei im letzten Jahr live gegangen. Ein weiterer Meilenstein: das Servicekonto. “Wir haben das modernste Bürgerinnen- und Bürgerkonto in Europa. Durch die weiteren Releases, die wir produktiv gesetzt haben, haben wir eine Interoperabilität hergestellt.” Mit einem Fragezeichen versieht der Bundes-CIO hingegen die Umsetzung im Rahmen des “Einer-für-alle”-Prinzips (EfA). Wichtiger noch als der “Export” von Leistungen sei der “Import”. Vor dem Hintergrund, dass in jedem einzelnen Bundesland rund 460 Leistungen “importiert” würden, müssten die Faktoren Transparenz und Schnittstellenmanagement mehr in den Fokus rücken. “Kein Mensch in Deutschland wird es nachvollziehen können, wenn wir einen grünen Haken an alle Leistungen machen, aber man vor Ort in einer Kommune das gar nicht abrufen kann”, gibt Richter zu bedenken.
Zusammenarbeit intensivieren
Für Richter eine wesentliche Voraussetzung für ein Gelingen bei der Flächendeckung ist der intensive Austausch im föderalen Kontext. Wenn ein Land eine gute Lösung erarbeitet habe, müsse sie andernorts auch genutzt werden. Dafür gelte es, “über den eigenen Schatten zu springen”. Betroffen seien dabei nicht nur die Länder, sondern auch der Bund, der etwa sein Organisationskonto zugunsten einer besseren Landeslösung eingestellt habe. Produktiv müsse das föderale Miteinander auch mit Blick auf die Prozessgestaltung in der Verwaltung gemacht werden. “Wir sind so vernetzt im Föderalismus, in der Digitalisierung – und gerade deswegen gilt es, die Komplexität zu reduzieren, abzuschichten, kurze Iterationen vorzunehmen.” Ein institutioneller Hebel sei das Format des GovTech-Campus, eines Coworking Space für Mitarbeitende aus Ministerien und Start-ups, der auf Bundesebene noch in diesem Jahr eingerichtet werden solle. Gleiches gelte für die Digitalakademie.
Die insgesamt positive Entwicklung, die sich im Feld der Verwaltungsdigitalisierung bemerkbar mache, müsse aber auch nachgehalten werden. In Ergänzung zu den auf den Weg gebrachten Maßnahmen müsse darum ein effizientes Controlling etabliert werden, das Erfolg auch messbar mache und – auf der anderen Seite – Fehlentwicklungen frühzeitig anzeige. Denn ein wesentlicher Part beim Prozess des digitalen Wandels sei nun mal auch das Scheitern, betont Richter. Umso wichtiger müsse es sein, dass man eine Toleranz auch für fehlgehende Projekte entwickle. Statt Angst vor eventuellem Scheitern müsse die Lust am Probieren geschürt werden – auch in der öffentlichen Verwaltung. Erst wo diese Rahmenbedingungen erfüllt seien, finde ein nachhaltiger Lernprozess statt, von dem alle Beteiligten – bei Bund, Ländern und Kommunen – gleichermaßen profitieren können, ist Richter überzeugt.
Mit Qualität und Komfort überzeugen
Zugutekommen sollen all diese Anstrengungen in letzter Instanz schließlich den Bürgerinnen und Bürgern im Land. Oberstes Ziel müsse es dabei sein, mit “Qualität und Komfort” zu überzeugen, betont die bayerische Staatsministerin für Digitales Judith Gerlach. Der Freistaat bemühe darum auch einen Multi-Kanal-Ansatz, der neben dem stationären Angebot auch auf mobile Lösungen setze. Mit der im Februar gelaunchten “BayernApp” biete man Bürgerinnen und Bürgern im Freistaat nun auch auf dem eigenen Smartphone Zugriff auf staatliche und kommunale Serviceleistungen der Verwaltung. Als erste ihrer Art in Deutschland verzeichne die App inzwischen schon über 35.000 Downloads. Mit Blick auf die Zukunft müsse das Angebot nun weiter mit Leben gefüllt werden. Für die Kommunen sei der Go-Live darum auch als ein Anstoß zu verstehen, die Zeit der Konzepte nunmehr hinter sich zu lassen und bei der Umsetzung des OZG messbare Erfolge zu schaffen.
Im Freistaat selbst steht ein solcher bereits zum Sommer ins Haus. Schon in wenigen Monaten soll das auf Basis der ELSTER-Technologie operierende Unternehmenskonto in die Pilotierung gehen. Der flächendeckende Roll-out ist für Ende des Jahres vorgesehen. Ein Meilenstein, wie Gerlach betont. Technisch beruht die von den Ländern Bayern und Bremen entwickelte Lösung dabei auf einem Bausteinprinzip, bei dem der Freistaat die technischen und praktischen Voraussetzungen für die Umsetzung auf ELSTER-Basis schafft, während Bremen seinerseits die Komponenten eines erweiterten Funktionspostfachs sowie – wiederum in Abstimmung mit Bayern – eine Autorisierung als eigenständig nutzbare Komfortfunktion im Unternehmenskonto konzipiert. Damit es auf kommunaler Ebene ähnlich kooperativ funktioniere, arbeiteten die Fachressorts des Landes derzeit mit Hochdruck an einer OZG-Übersicht, auf der die Kommunen sich informieren könnten, welche Leistungen bereits vorlägen und welche in Eigenregie angegangen werden müssten.
Digitalisierung ohne kommunale Einbindung wird teuer Doch kann ein solcher Überblick immer nur der Anfang sein. Als Vertreterin der kommunalen Ebene kritisiert Dr. Ariane Berger, Leiterin Digitalisierung beim Deutschen Landkreistag (DLT), eine Schaufenster-Mentalität, bei der neue Leistungen nur als verfügbar ausgeschrieben würden, die Kommunen dann aber die Implementierung allein vornehmen müssten. Dieser sei es auch geschuldet, dass der Produktivbetrieb trotz eines immer größeren Pools an OZG-Leistungen noch nicht in der Fläche angekommen sei. Verantwortlich macht Berger ein tiefsitzendes Strukturproblem zwischen den Ländern, ihren Kreisen und kreisfreien Städten. Mit Blick auf eine erfolgreiche Digitalisierung – beim OZG, aber auch darüber hinaus – müsse es darum gehen, neue Governance-Strukturen zu schaffen, um die Kommunen besser in den Vollzugsprozess zu integrieren. Als Beispiel nennt Berger die Nachnutzung einer EfA-fähigen Dienstleistung durch eine Kommune, beheimatet in einem anderen Bundesland als der zu implementierende Service. Bislang sei noch offen, wie eine Übernahme gestaltet werden könne, ob über einen Rahmenvertrag zwischen den Ländern oder auf anderem Wege. Ausreichend seien die aktuellen Strukturen in jedem Fall nicht, betont Berger. Was es in Anbetracht von EfA brauche, sei eine klare politische Steuerung auf kommunaler Ebene – idealerweise in Form einer Bündelung, perspektivisch auch über Ländergrenzen hinaus. Wo dies nicht geschehe, würden am Ende immense Kosten entstehen. “Diese Party wird teuer”, resümiert Berger.